Tief Durchatmen - die Wiederentdeckung eines beglückenden Lebensgefühls anlässlich einer Reise nach Schlesien im Juni 2021
Wenn ich hoch oben geh, schwinden die Qualen, Fängt mir die Sonne an, Schlösser zu malen. Und rings die weite Welt Ist für mich hingestellt. Wenn ich hoch oben geh, Wird mir so frei.
Aus dem Tagebuch Carl Hauptmanns, zitiert aus: Die Künstler in Schreiberhau, Muzeum Karkoniskie Jelenia Góra , Moniatowicz Foto Studio 2007
Die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann beschlossen 1890, die Grossstadt Berlin mit ihren Fabriken, ihrem Lärm und der dichten Bebauung zu verlassen, um sich naturnah im malerischen Schlesien niederzulassen. Sie wählten Schreiberhau und machten es zu einer Künstlerkolonie, die Vergleiche mit Worpswede, Murnau, Barbizon nicht scheuen muss.
Der spätere Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann hat in Schreiberhau u.a. Die Weber, Der Biberpelz und Fuhrmann Henschel verfasst; sein Bruder Carl bekundete seine starke emotionale Bindung an Schlesien mit dem Rübezahlbuch. Rübezahl – der Berggeist, verkörpert die Natur und die Naturgewalten, die den Brüdern, aber auch vielen Künstlerfreunden – wie z. B. Otto Mueller – Quelle der Inspiration waren.
Was beflügelt die Kreativität und die Schaffenskraft an solchen Orten?
Für die darstellenden Künstler sind es sicher die vielfältigen Perspektiven, die sich aus der Berg – und Tallandschaft ergeben ebenso wie die Unmittelbarkeit der Lichtverhältnisse und der Wetterphänomene.
Für die Schriftsteller bringt das Carl Hauptmann in dem eingangs zitierten Gedicht auf den Punkt: Wenn ich hoch oben geh, wird mir so frei. Für mich klingt in diesen Zeilen das tiefe Ein- und Ausatmen mit, das er – vielleicht auch mit einem befreienden Seufzer – angesichts dieser heute noch vorwiegend idyllischen Landschaft als vitale Lebensäußerung praktiziert haben wird. Die Respiration, das Atmen, der Gasaustausch ist lexikalisch eng verwandt mit dem Spiritus – dem Geist und mit der Inspiration, der Beseelung, dem unerwarteten Einfall, der plötzlichen Eingebung. Also dem Grundnahrungsmittel für alle kreativ Beschäftigten.
Auch für mich bedeutete die Reise nach Polen, nach Schlesien, nach langen Monaten der pandemiebedingten Restriktionen ein wirkliches Aufatmen. Das überkam mich erstmals ganz stark am späten Abend des Anreisetages in Görlitz/ Zgorzelec, als ich nachts mitten auf der Fußgängerbrücke über der Neiße zwischen Deutschland und Polen stand. Was noch bis Anfang 2020 völlig einfach und eigentlich ein beiläufiger Vorgang war – nämlich der innereuropäische Grenzverkehr – wurde monatelang zur möglichst zu vermeidenden, und wenn dann stark reglementierten Aktion.
Und nun das: Freies Flanieren zwischen den Ländern – deswegen tiefes Durchatmen auch angesichts der baldigen völlig unspektakulären Einreise nach Polen.
Und so ging es am Zielort Schloss Lomnitz im Hirschbergtal weiter. Tief Durchatmen – weil man dort geradezu fürstlich logieren und dinieren kann. Und weiter: vom wirklich lieblichen Tal hinauf gewandert auf die Schneekoppe – rings die weite Welt ist für mich hingestellt. Tiefes Ein- und Ausatmen – nicht nur wegen des Ausblicks: immerhin waren 1200 Meter zu erklimmen.
Exkursionen zu sehenswerten Orten wie Schweidnitz und Bad Warmbrunn – tiefes Durchatmen, weil so viel zu sehen ist und weil man sich so vieles ausmalen kann – fängt mir die Sonne an, Schlösser zu malen.
Und irgendwann kam dann folgerichtig die Eingebung, das lesenswerte Buch von Jessica Braun: Atmen – wie die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert, Januar 2021, Goldmann, München, kurz vorzustellen.
Die Autorin wird im Klappentext mit dem Satz zitiert:
Atmen ist eine Superkraft. Das legt sie anhand des Lebenszyklus des Menschen vom ersten bis zum letzten Atemzug lesenswert und interdisziplinär dar. So beweist sie langen Atem bei so unterschiedlichen Themen wie Atem und Sport, Atem und Gesundheit und Atem und Sex, ohne jemals langatmig zu werden.
Und auch bei ihr wird tief durchgeatmet: Was Atmen mit Gefühlen zu tun hat, ist ein Kapitel überschrieben. Es widmet sich ausgehend von Angststörungen der Tatsache, dass man im Gegensatz zu anderen vitalen Funktionen wie dem Herzschlag und der Darmtätigkeit seinen Atem steuern kann. Und das gewinnbringend einsetzen kann. Bergleute, Feuerwehrleute und Soldaten lernen Atemübungen zur Stressprophylaxe: zwei Takte lang einatmen, einen Takt pausieren, zwei Takte lang ausatmen. Das dient der Zentrierung und hilft, nicht in eine Angstspirale zu kommen. Eine weitere Atemtechnik ist das Valsalva-Manöver, das eigentlich Schluckauf bekämpft, aber auch Herzrasen eindämmen kann: den Mund schließen, die Nase zuhalten und innerlich dagegen anatmen. (a.a.O., S. 191)
Was man an sich selbst gerade in Zeiten sich ausweitenden Homeoffices beobachten kann und dann ggf. gegensteuern sollte: die sog. E-Mail-Apnoe. Ein Phänomen der Digitalisierung: immer, wenn eine neue E-Mail eingeht, hält der Empfänger unwillkürlich die Luft an. Bei durchschnittlich 21 beruflichen E-Mails am Tag entsprechende unnötige Atemaussetzer, die in Verbindung mit den zahllosen privaten Mails und Social Media Benachrichtigungen den Atem aus dem Fluss bringen. (a.a.O., S. 192).
Dann doch lieber richtig schön durchatmen! Und einen Blick in den Anhang werfen, in dem die Autorin Atemübungen zusammengestellt hat.
Goethe lobt die Superkraft Atem so:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: die Luft einzuziehen, sich ihrer entladen; Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt.
(a.a.O., S.10)